Flensburg nennt sich nicht umsonst das „Tor zu Skandinavien“. Die Gegebenheiten mit einer aktiven dänischen Minderheit südlich und einer deutschen Minderheit nördlich der Grenze sowie die Lage an einem „Fjord“ inmitten einer der ältesten Kulturlandschaften Europas waren und sind einfach so ideal, dass die Idee für ein nordisches, grenzüberschreitendes Festival einfach von Beginn an erfolgreich sein musste und eine schwere Krise überwunden werden konnte.
Text: Jens-Peter Müller
folkBALTICA ist kein Festival, das klein angefangen und sich nach und nach entwickelt hat. Es hat sich zwar sehr gewandelt, aber es war von Beginn an groß. Ein Leuchtturm eben, wie es das vom Flensburger Musiker und Grafiker Rainer Prüss so genial schlicht gestaltete Logo vermittelt. Seit 2005 finden im Schnitt etwa 25 bis 30 Konzerte an über 20 verschiedenen kleineren und größeren Spielstätten zwischen Kiel und Rømø, Husum und Sønderborg statt, die fast immer ausverkauft sind.
Die Erfolgsgeschichte des Festivals lässt sich klar in zwei Abschnitte einteilen. Sie ist eng mit zwei Hauptfiguren und wichtigen Nebenbesetzungen verbunden. Die eine Hauptfigur, Festivalgründer und von 2005 bis 2012 künstlerischer Leiter und Geschäftsführer, ist der Autor dieser Zeilen selbst, die andere der dänische Folkmusiker Harald Haugaard, der seit 2013 für die Programmgestaltung verantwortlich ist.
Dankbar habe ich den etwas ungewöhnlichen Auftrag der Redaktion angenommen, diesen Artikel zu schreiben, weil er die Gelegenheit gibt, von außen, mit Abstand über die ganze Bedeutung dieses Festivals für das Musikleben im Norden nachzudenken. folkBALTICA berührt die große Frage nach Verständigung und Frieden in Europa, ebenso wie die untergeordnete Rolle der traditionellen Musik in Deutschland und die Frage der Nachwuchsförderung im Folkbereich.

Der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsidenten Björn Engholm initiierte Ende der Achtzigerjahre das Netzwerk Ars Baltica, um von Schleswig-Holstein aus kulturelle Brücken in den geteilten Ostseeraum zu schlagen. Die Arbeiten über den Eisernen Vorhang hinaus am „Prolog“, wie Engholm es nannte, führten dann 1991 zum ersten Festival JazzBaltica im Schloss Salzau bei Kiel. 2003, zwei Jahre vor dessen fünfzehnter Ausgabe, ging die Landesregierung auf die Landesarbeitsgemeinschaft Folk Schleswig-Holstein zu, deren Vorsitzender ich damals war, um ein „neues Musikereignis auf ähnlich hohem Niveau wie JazzBaltica“ anzuregen.
„Ohne Volksmusik würden wir gar keine Musik spielen.“
Dass Folkmusik in den nordischen und baltischen Ländern eine ganz andere Rolle spielt als in Deutschland, dass dort die Genreschubladen weit geöffnet sind, dies erlebbar zu machen, dafür habe ich als (Rundfunk-)Journalist, später mit meiner Konzertagentur Nordpool und dann als Festivalleiter immer gebrannt – die Erfahrung des Ausbrennens in Zeiten von Schuldenbremse und Sparmaßnahmen habe ich dann 2012 leider auch machen müssen.
Niemand Geringeres als „Mr. JazzBaltica“, der schwedische Posaunist Nils Landgren, spielte am 22. April 2005 in der mit fünfhundert gespannten Menschen rappelvollen Alten Post in Flensburg das erste Eröffnungskonzert mit der Weltpremiere seines Swedish Folk Project im Trio mit Jonas Knutsson am Saxofon und Johan Norberg an Gitarre und Kantele. Landgren widmete dem Festival die denkwürdigen Worte: „Ohne Volksmusik würden wir gar keine Musik spielen. Die Bedeutung ist nicht zu überschätzen. Aus diesem tiefen Erbe holen wir unsere musikalischen und menschlichen Impressionen.“ Zwanzig Jahre später ist der Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF), Christian Kuhnt, regelmäßiger Gast bei den folkBALTICA-Konzerten, und tauchen Nachwuchsgruppen wie das estnische Duo Ruut (siehe folker #4.23) oder die dänische Mads Hansens Kapel in dessen Festivalprogramm auf, nachdem sie zuvor im Line-up bei folkBALTICA waren. „Ein wunderbarer Liebesbeweis“, sagt strahlend Nele Spitzley, eine der beiden hauptamtlichen Kräfte im Festivalbüro.
Rainer Prüss, mit dem ich schon in den Jahren 1992 bis 2000 den Deutschen Folk Förderpreis organisieren durfte, war gleich 2003 mit im Boot und gab mir die Hausaufgabe mit auf den Weg, zwei, drei Sätze zu formulieren, die ich sozusagen aus dem Schlaf auf die Frage „Was ist folkBALTICA?“ parat haben sollte. Und so wurde das Festival folgendermaßen (noch bevor überhaupt ein Ton erklungen war!) in der lokalen und überregionalen Presse positioniert: „folkBALTICA ist ein neues Musikfestival von nationaler und internationaler Bedeutung, das eine in dieser Art einmalige Plattform für nordische und baltische Musikkulturen schafft. Nach Jazz (JazzBaltica) und Klassik (SHMF) vervollständigt folkBALTICA mit traditioneller Musik in zeitgemäßen, modernen Erscheinungsformen als dritter Eckpfeiler die Bandbreite bedeutender Musikfestivals in Schleswig-Holstein.“
Was hier auf dieser einmaligen Plattform an bisweilen gewagten, kreativen Ideen verwirklicht werden konnte und kann, getragen von einem immer offenen, vertrauensvollen Publikum und liebevoll begleitet von einem unentbehrlichen Team von Ehrenamtlichen, hat seine Wirkung weit über die Landesgrenzen hinaus. So war der Nordische Ministerrat, der seine südlichste Dependance in Flensburg hat, in den ersten Jahren der wichtigste Geldgeber – was auch an der „Zurückhaltung“ der deutschen Seite in dieser Zeit lag. Musikerinnen und Musiker, auch die bekanntesten, kamen gerne, obwohl das Honorar aufgrund des sehr spärlichen Budgets eigentlich nicht den normalen Erwartungen entsprechen konnte. Ein Höhepunkt war der Besuch der langjährigen lettischen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga zum Festivalschwerpunkt „Lettland“ im Jahr 2010, wo sie Ehrengast des „Sonnenkonzertes“ mit lettischen, samischen und schwedischen Kulturschaffenden sowie dem Crane Dance Trio um den Flötisten Jonas Simonson aus Göteborg war.
Die finanziell und personell angespannte Lage wurde allerdings zunehmend dramatisch. Die Stadt Flensburg, die am meisten vom kulturellen Aushängeschild profitierte, hatte sich zum Beispiel kaum an der Finanzierung beteiligt. Es war ein Glücksfall, dass der aus langjähriger Agenturzusammenarbeit und Liebe zum Festival freundschaftlich verbundene Harald Haugaard im Sommer 2012 als neuer künstlerischen Leiter bereitstand. Aus der von mir als Geschäftsführer bis dahin geleiteten Trägerorganisation, der gemeinnützigen folkBALTICA gGmbH, bestehend aus Einzelpersonen und Kulturinstitutionen, formierte sich nach dramatischen Prozessen, die beinahe zum Aus des Festivals geführt hätten, 2014 der folkBALTICA e. V. Darin tragen nun endlich auch die Städte, Kreise und Kommunen beiderseits der Grenze als Mitglieder Mitverantwortung.
Seit Harald Haugaard den „Leuchtturm“ mit seiner ansteckenden Begeisterung bespielt, werden auch in der Nachwuchsarbeit, die die LAG Folk mit Blick auf die vielfältigen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in Skandinavien schon Ende der Neunziger unter dem Motto „Folk ist jung“ begonnen hat, neue, starke Akzente gesetzt. Gleich im Herbst 2012 gründete Haugaard das über vierzig junge Menschen umfassende deutsch-dänische folkBALTICA Ensemble. Mittlerweile ist daraus eine „Folkakademie“ entstanden, die neben Schulkonzerten kontinuierlich Workshops für Lehrkräfte an Musikschulen durchführt. Haugaards Credo lautet: „Menschen machen Musik, und Musik macht Menschen.“ Sein Engagement gilt besonders der deutsch-dänischen Region Sønderjylland-Schleswig mit ihrer bewegten und teilweise sehr blutigen Geschichte, für die er als Däne ein anderes Empfinden hat als viele Deutsche.
„folkBALTICA vervollständigt als dritter Eckpfeiler die Bandbreite bedeutender Musikfestivals in Schleswig-Holstein.“
folkBALTICA führt jährlich dänische und deutsche Liedermacherinnen und Liedermacher zusammen, wie zum Beispiel Felix Meyer und Christian Junker 2020, um einen zweisprachigen Festivalsong zu schreiben. Haugaards jüngste Innovationen sind die thematisch auf die Kultur und Geschichte des dänischen und nordfriesischen Wattenmeeres ausgerichteten „Inselkonzerte“ sowie die Bildung eines Festivalchores, der für Laien beiderseits der Grenze offen ist. Geleitet wird das Projekt von der momentan auf Fünen lebenden, in Schweden sehr bekannten Chorleiterin Britta Kold. Wenn der norwegische Geiger Gjermund Larsen als diesjähriger „Hauskünstler“ zusammen mit vielen Gästen seine vier Ausdrucksformen (Musik, Gesang, Tanz, Literatur) umfassende Auftragsarbeit „Der Lenz kommt“ beim Jubiläumskonzert am 24. Mai in Flensburg uraufführen wird, ist der Chor auch dabei. Überhaupt habe sich folkBALTICA von einer mehrtägigen Veranstaltung im Frühjahr durch Workshops, mit Herbstkonzerten und Gastspielen beim Tønder Festival zu einem „ganzjährigen Ereignis“ entwickelt, wie Helle Barsøe von der Kommune Sønderborg meint. Sie ist die seit zwanzig Jahren gute Seele für die Veranstaltungen in Dänemark und jetzt Vorsitzende des folkBALTICA-Vereins, der das Festival hoffentlich für viele weitere erfolgreiche Jahre sichern kann.
Die diesjährige Ausgabe des folkBALTICA-Festivals findet vom 17. bis 25. Mai 2025 statt. Alle Infos dazu unter www.folkbaltica.de.
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